Folge 38 – Ziemlich sonderbare Freunde – Teil 1: Familie formt das Denken und die weströmische Kirche die Familie

Ihr seid sonderbar. Ich bin es auch. Wir alle sind sonderbar, seltsam, weird, wobei weird steht für Western, Educated, Industrialised, Rich, Democratic. Und als sonderbare Menschen ticken wir ganz anders als Menschen in nicht-sonderbaren Gesellschaften: wir empfinden viel Schuld, aber wenig Scham, wir finden, dass Absicht eine wichtige Größe ist, um eine Handlung moralisch zu bewerten, wir würden ungern für unsere Freunde lügen usw. Vieles, was die Psychologie experimentell als Konstanten zeigen wollte, ist in erster Linie nur auf die westliche Welt anwendbar, so die Thesen des US-Anthropologen Joseph Henrich.

In der heutigen Folge geht es um diese Besonderheiten in unserem Gefühls- und Denkapparat und um seine sehr überraschende Erklärung: die katholische Kirche. Die hat in einem 1000-jährigen Prozess ein weltweit einmaliges Ehe- und Familienprogramm durchgesetzt, das ihr erst zu viel Reichtum und Macht verholfen hat. Dabei hat sie aber ohne es zu ahnen auch die kritischen Geister geschaffen hat, die sich massenweise von ihr abwenden würde. Monogamie auch für die Herrschenden, das Verbot von Adoption und Scheidungen, das Verbot Verwandte 6. Grades zu heiraten und sogar nur Verwandte im Geiste (z.B. Patenonkel und Patentante) sorgte dafür, dass die Familienverbünde, die bis dahin Europa beherrschten, ihren Besitz nicht mehr zusammenhalten konnten, ihre Macht brach und viele Dynastien ausstarben – und am Ende idealerweise der Kirche ihr Eigentum vermachten, sodass sie zur Zeit der Reformation fast die Hälfte des Grundbesitzes in Deutschland besaß. In der Folge mussten Heiratswillige bis zu 10.000 Menschen ausschließen. Eine neue Mobilität setzte ein, man heiratete später und seltener, man musste sich mehr mit Fremden arrangieren, die Familie wurde geschwächt und durch Individualismus und die übergeordnete christliche Identität ersetzt. Wie holprig und doch erfolgreich dieser Prozess von rund 300 bis 1300 lief, ist Teil des zweiten Teils der heutigen Folge.

Damit sind wir aber erst bei der Hälfte der spannenden Gedanken angekommen. In der nächsten Folge schauen wir uns erst einmal an, was es prinzipiell mit Menschen macht, wenn sie von einer polygamen (in Europa bis dahin Standard) in eine monogame Gesellschaft wechseln (das wichtigste Stichwort: Testosteron!) und was das konkret in Europa losgetreten hat, darunter der viel stärker auftretende Zusammenschluss mit Fremden in Städten, Universtitäten, Klöstern oder Zünften.

Viel Spaß beim Zuhören!

Das Buch von Joseph Henrich heißt „Die seltsamsten Menschen der Welt: Wie der Westen reichlich sonderbar und besonders reich wurde“ und erschien 2020 auf Englisch und 2022 erstmals auf Deutsch bei Suhrkamp.

(0:01) Einführung

(2:08) Der Sonderweg der westlichen Gesellschaften

(5:33) Die Normen westlicher Gesellschaften

(7:24) Die Auswirkungen des Ehe- und Familienprogramms

(9:32) Unterschiedliche Wahrnehmungen in verschiedenen Gesellschaften

(12:46) Rollen in familienzentrierten Gesellschaften

(17:13) Kontrolle und Entscheidungsfreiheit in westlichen Gesellschaften

(21:25) Das Beifahrer-Dilemma

(22:59) Unterschiede in moralischen Vorstellungen

(25:44) Entwicklung der westlichen Gesellschaften

(55:08) Schluss

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